20 Minutes with
Shemesh Kitchen

...über Anti-Perfektionismus in der Küche, Mental Health und Nougat Kissen.

Noch nicht einmal drei Monate online und schon über 7k Instagram- und 19k Tik Tok-Follower – und das ohne nackte Haut, Amalfi-Küsten-Ausblicke und Luftballons. Sophia Giesecke und Uri Triest machen richtigen Content: Auf Shemesh Kitchen gibt es Bilder von fotogenem Essen und die dazugehörigen Rezepte. Manche sind einfach, andere elaboriert – schön und lecker sind sie alle. Es ist Fusion-Küche, die genau in unser Lockdown-leeres Herz zielt, uns neue Inspiration für die Küche gibt und ohne prätentiöse Extras daherkommt. Uri und Sophia sind sich einig: Lieber intuitiv kochen als jedes Gramm abwiegen. Lieber zufällig gesund als gezwungen strikt. Lieber Olivenöl als schicke Utensilien. Für das Projekt haben sich die selbsternannte "traurige Bloggerin", ihre multichannel Story-Telling Fähigkeiten, der israelische Koch und sein Kulinarik-Verständnis zusammengefunden um auf authentischste Art und Weise die großen Food-Player in den Gemüsefeld-Schatten zu stellen. Shemesh kommt mit einer Mission und die erklären uns die beiden:

Nele Tüch: Shemesh Kitchen ist ein Corona-Projekt – hattet ihr das Projekt schon vorher geplant oder entstand es aus der Lockdown-Fatigue?
Sophia Giesecke: Wir planen bereits seit vielen Jahren ein gemeinsames Projekt zu starten. Wir haben sogar schon einige Rezepte in der Vergangenheit geshootet, die haben aber aus diversen Gründen nie das Licht der Welt erblickt. Die Idee ist also nicht aus dem Lockdown entstanden – die Zeit und die Motivation allerdings schon. Wir standen im April beide mehr oder weniger ohne Job dar, also haben wir einfach angefangen. Ohne groß zu planen. Uri war auf jeden Fall die treibende Kraft dahinter.

Uri Triest: Durch den Lockdown habe ich alles in meinem Leben hinterfragt. Ich bin eigentlich immer irgendwie am arbeiten, ganz plötzlich ohne Arbeit zu sein tat mir nicht gut. Das war genau der richtige Zeitpunkt unsere Idee endlich zu verwirklichen.

 

NT: Ihr seid selbst ernannte Koch-Improvisateure, wie können wir uns die Entstehung eines Rezepts vorstellen?
Sophia: Meistens spinnen wir zusammen rum und brainstormen. Entweder wenn wir uns sehen oder via Whatsapp. Manchmal denken wir uns Rezepte aus, gehen dann einkaufen und entscheiden uns im Supermarkt ganz spontan um, weil wir eine Zutat entdecken, die uns in diesem Moment mehr anspricht. Viele Rezepte sind bewährte Rezepte von Uri, die wir aber noch einmal gemeinsam abändern.

Uri: Ein Gericht kann aus vielen Quellen zu Stande kommen. Improvisiert wird immer, auch wenn wir ganz klare Ideen haben. So macht es uns einfach mehr Spaß, und passt zu unserer instabilen Natur. Essen ist lebendig! Ein Rezept ist eine Empfehlung, aber das Kochen ist wie ein Liveshow, jedes Mal ist es ein bisschen anders, und so soll es auch sein.
NT: Sophia, du klärst auf deinem Account über Mental Health auf, Uri du bist Koch. Das Motto eures gemeinsamen Projekts Shemesh Kitchen ist “Cook the pain away”. Wird es hier auch Content zum Thema psychische Gesundheit geben?
Uri: Meine Eltern sind beide Psychologen, psychische Gesundheit und lack thereof ist ein untrennbares Teil unserer Arbeit. Sophia und ich erzählen einander oft von unserer Therapie. Durch unsere gemeinsame Arbeit lernen wir sehr viel über einander und uns selbst und gehen immer besser gelaunt nach Hause als wir kamen (sind ja dann auch satt). Für uns hat die gemeinsame Arbeit also durchaus therapeutische Ansätze. Ich wollte auch immer schon einmal mit Menschen mit Essstörungen arbeiten und zusammen individualisierte `Food Programme´ kreieren.

Sophia: Wir sind ganz klar ein Food Account, auch wenn man das natürlich nicht so richtig trennen kann und wir aufgrund unserer Art und wie wir Content kreieren ja schon sehr “real” sind und nichts verschönern. Uns war es wichtig, keine unerreichbaren Standards zu zeigen: keine perfekte Küche, kein perfektes Leben, keine perfekt bearbeiteten Videos. Und ja, für uns ist das Projekt eine Art Therapie. Wir wachsen täglich über uns hinaus und lernen beide sehr viel. Ich hatte im letzten Jahr einen Burnout und war gar nicht sicher, ob ich jemals wieder arbeiten kann. Das Projekt hilft mir dabei, wieder Selbstvertrauen in meiner Arbeit zu finden und mich ohne Druck auszuprobieren.

NT: Normalerweise wird an dieser Stelle gefragt, mit wem ihr gerne mal zusammen dinieren würdet. Ich will lieber wissen, mit wem ihr gerne mal zusammen kochen würdet.
Sophia: Mit Claire Saffiz und Sohla El-Waylly. Beide sind unglaublich toll und inspirierend.

Uri: Josh Niland und Nof Atamna. Von beiden kann ich noch viel lernen.

 

NT: Was darf in keiner Küche fehlen?
Uri: Schüssel, Löffel, Olivenöl.

Sophia: Olivenöl. Ich glaube nicht an teure Küchen und fancy Equipment.
NT: Eure Lieblingsgerichte für lazy weeknights, zum angeben und für warme Sommertage?
Sophia: An lazy weeknights schmeiße ich gerne einfach Gemüse und irgendwelche Carbs in eine Pfanne oder in den Ofen. Meine Freundin habe ich mit veganer Bolognese rumgekriegt, scheint also ein gutes Angebergericht zu sein. An warmen Sommertagen esse ich eigentlich nur Gurkensalat, Tomatensalat oder Paprikasalat mit Feta.

Uri:
1. Pasta, Sardellen und Tomaten. Mein Sohn mag das so sehr, er besteht darauf, dass ich ihn Anchovy nenne.
2. Trauben mit Joghurt, Honig, Olivenöl und Salzstangen.
3. Nougat Kissen mit sehr kalter Milch.

NT: Ihr habt nach zwei Monaten schon über 5000 Follower*innen und das ohne extra Medienbudget, wie Sophia in einem Post schrieb “Content ist eben doch King”. Wie schafft man es auf sozialen Kanälen heute relevant zu bleiben?
Sophia: Wir machen Content, den wir gerne selbst sehen wollen. Und wir haben eine absolute Geheimwaffe: Wissen. Uri ist ein wahnsinnig guter Koch und ich kenne mich ganz gut mit Social Media aus. Nur schöne Bilder reichen nicht mehr, es muss auch inhaltlich passen und der Audience einen Mehrwert bieten. Ich habe in den letzten Monaten Trends und Strategien beobachtet und recherchiert, was funktioniert und was nicht und wa zu uns passt. Und dann haben wir einfach angefangen. Durch Learnings haben wir unsere Strategie immer weiter verfeinert. Wir entwickeln und produzieren Content nur eine Woche im Voraus, dadurch können wir schnell auf Trends oder die Bedürfnisse unserer Community reagieren. Zudem machen wir im Hintergrund viel PR Arbeit und wurden deswegen von für uns sehr relevanten Influencern und Medien vertaggt. So wächst man vielleicht langsamer, aber die Community interessiert sich wirklich für unseren Content und ist sehr engaging. Wir haben zum Beispiel gerade 5650 Follower und davon sehen sich 3300 Leute unsere Stories an.

 

NT: Wo finden wir euch, jetzt wo die Restaurants und Bars wieder offen haben?
Uri: Tatsächlich im Beuster, behind the scenes. Mein Lieblingsort vorm Lockdown war La Cote, hatte aber noch keine Chance wieder dahin zu gehen. Ansonsten Shaniu’s House Of Noodles, Akroum Snack, Imren Grill Karl-Marx-Straße.

Sophia: Im Beuster in Neukölln! Im Isla Café und im Wilke Café. Im Paolo Pinkel. Im Gazzo. In der Alaska Bar. Also eigentlich überall in Neukölln.
NT: Auf eurem Account macht ihr englischen Content, weil ihr auf den internationalen Durchbruch hofft. Wohin wollt ihr mit Shemesh Kitchen noch?
Uri: Ich würde sehr gerne ein Kochbuch veröffentlichen. Wir sind immer wieder überrascht und begeistert zu sehen wie viele Menschen unsere Rezepte nachkochen. Ich habe mir kochen selber beigebracht, anhand von Videos und Rezepten. Menschen inspirieren zu können ist deswegen sehr schön für mich. Wir versuchen Rezepte zu kochen, die gleichzeitig beeindruckend und leicht nachvollziehbar sind und die die Menschen dazu inspirieren, selbst kreativ in der Küche zu werden.

Außerdem wollen wir Shemesh Pop-up Restaurants machen. Ich koche sehr gerne im Restaurant, aber die Herausforderung ein spezielles Menü unter unbekannten Voraussetzungen auszudenken, reizt mich sehr.

Sophia:
Ich träume schon seit Jahren von einem eigenen Space, der gleichzeitig Küche, Büro, Veranstaltungsort und Studio ist. Ansonsten natürlich das, was Uri sagt.

 

NT: Wie definiert ihr Freiraum und wo könnt ihr ihn finden?
Uri: Unter Druck bin ich am kreativsten. Herausforderungen schaffen für mich Freiraum, in dem ich mich voll entfalten kann. Wenn ich keine Probleme zu lösen habe, bin ich lost.

Sophia: Freiraum heißt für mich, dass ich über meinen Körper, meine Zeit und meine Kreativität selbst bestimmen kann. Eine Festanstellung mit genauen Arbeitszeiten ist nichts für mich. Ich muss Impulsen nachgehen können. Ich plane fast nie meine Arbeitstage durch, sondern bin immer ganz spontan. Ist nicht immer super produktiv so, aber für meine mentale Gesundheit ist es genau richtig.