Wenn Kleidung mehr als Stoff und Geld ist...

Cherie Birkner von 'Sustainable Fashion Matterz' über den Wert unserer Kleidung, die kleinen Dinge und kaputte Pullover als Statement

Modedesignerin, Kreativdirektorin, Fotografin und vor allem Aktivistin für nachhaltige Mode - das, und vieles mehr ist Cherie Birkner. Die Gründerin von Sustainable Fashion Matterz hat sich zu Herzen genommen, die Modewelt infrage zu stellen, dafür zu kämpfen sie nachhaltiger zu gestalten, das “wahre Gesicht” der Fast Fashion Industrie zu outen und zu zeigen wie viel ein Kleidungsstück kosten kann – monetär, aber auch ressourcen-bedingt und menschenrechtlich.

Welche Werte sind uns wichtig? Können wir mit gutem Gewissen sagen, dass die Kleidung, die wir kaufen und das Label selbst zu uns und unseren Werten passen? Unterstützen wir mit unseren Kaufentscheidungen Unternehmen, deren Werte ganz andere als unsere sind?

Cherie Birkner macht sich mehr aus Kleidung: Was wir tragen, sollte vielmehr ein Wegbegleiter sein, eine Geschichte erzählen und uns etwas bedeuten. Aber geht das mit einem Kleidungsstück aus einem Fast Fashion Modehaus, das oft sogar weniger als einen Kaffee kostet?

Wir haben mit Cherie über ihren Weg in Richtung nachhaltige Mode gesprochen. Wieso Nachhaltigkeit nicht gleich Nachhaltigkeit ist und was man tun kann, um einen nachhaltigeren Lebensstil zu führen.

Nele Tüch: Wie bist du zu Sustainable Fashion Matterz gekommen?

Cherie Birkner: Ich war Creative Director einer Fast Fashion Jeans Marke, aber konnte mich nie richtig mit dieser Brand identifizieren. Trotzdem war es ein Super-Job: Find erstmal einen richtigen Job und kein Praktikum, wenn du gerade aus dem Modedesign-Ausbildung kommst… Ich hab viel Verantwortung bekommen und den neuen Onlineshop aufgebaut, der wirklich erfolgreich war. Dadurch war alles, Lager- bis Kundenservice, unter einem Dach, in zwei riesigen Räumen. So hat man dann mitbekommen, wie viel tatsächlich zurückgeschickt wird und wie viel Müll an Verpackungen dadurch anfällt.

Eigentlich wollte ich mit der Marke immer in eine nachhaltige Richtung gehen. Als es uns dann wirklich gut ging und wir die Sicherheit hatten uns der Nachhaltigkeit zu widmen, merkte ich, dass sich meine Vision ganz schön von der der Firma unterschied. Ich wollte, dass sich meine Sichtweise wie man mit Kleidung umgehen sollte und wie Wert geschaffen wird, in meinem Leben widerspiegelt – wie ich mein Leben finanziere, soll nicht auf den Kosten von anderen passieren. Das war eine relativ klare Erkenntnis für mich. Ich habe dann kurz nach einem Gespräch, in dem die sich unterscheidenden Interessen klar wurden, gekündigt.

NT: Spannend finde ich, dass du direkt an der Quelle saßt und mitbekommen hast, was alles wieder zurückgeschickt wurde. Im Diskurs über nachhaltige Mode wird oft erklärt, dass viele Produkte, die zurückgeschickt werden, in Müllverbrennungsanlagen landen.

CB: Wenn die Sachen in Ordnung waren, haben wir sie natürlich weiterverkauft. Aber wenn irgendwo ein Knopf gefehlt hat oder ein Zipper kaputt war, mussten wir uns überlegen, ob es sich lohnt den Knopf wieder dran machen zu lassen. Es war eben kein Qualitätsprodukt, also hat es sich nicht rentiert, es wieder zu reparieren, auch wenn wir das am liebsten so gemacht hätten. Wir haben nichts weggeschmissen oder verbrannt, wir hatten einfach Ewigkeiten lang die Kisten bei uns rumstehen.

NT: Es ist sehr viel nachhaltiger, in hochwertige Kleidungsstücke zu investieren und diese richtig zu pflegen und zu reparieren. Wenn ein Kleidungsstück nämlich einen sehr kurzen Lebenszyklus hat, dann ist der Ressourcen-Verbrauch, der vor und nach dem Kauf aufgewendet wird, nicht gerechtfertigt. Die Menschen vergessen, dass Kleidung kein Wegwerfprodukt ist.

"Egal ob etwas viel oder wenig gekostet hat, man sollte sich darum kümmern. Es steckt viel Arbeit drin, auch wenn sie finanziell vielleicht nicht richtig wertgeschätzt wurde."

CB: Ich flicke zum Beispiel viele Sachen von mir. Ich hatte mal einen schwarzen Kaschmir-Pullover, der super viele Löcher hatte und habe immer extra etwas Weißes drunter getragen, sodass man die Löcher gesehen hat. Es wurde so oft in Gesprächen thematisiert: „Du hast da ein Loch.“ Ja, aber nur weil da ein Loch ist, heißt es ja nicht, dass man den Pullover nicht mehr tragen kann. Das kann man genauso auch bei Kleidung machen, die nicht so hochwertig ist. Egal ob etwas viel oder wenig gekostet hat, man sollte sich darum kümmern. Es steckt viel Arbeit drin, auch wenn sie finanziell vielleicht nicht richtig wertgeschätzt wurde. Jemand hat seine Lebenszeit in dieses Teil investiert – ob es nun Fast-, High- oder Sustainable Fashion ist.

NT: Ich hatte letztes Jahr ein Interview mit Eliza Edwards von The Slow Exposure

CB: Oh, sie ist super.

NT: Ich hab mich mit ihr in einem Kreuzberger Hinterhof in einem Baumhaus getroffen, in dem sie arbeitet. Sie hat etwas gesagt, was ich total eingängig fand: Wenn ich den Preis als Konsument*in nicht zahle, dann zahlt jemand anderes diesen Preis. Dieser Satz ist mir nachhaltig im Kopf geblieben. Man weiß ja, dass Fast Fashion schlecht ist, man weiß auch, dass man zu wenig zahlt und was da für ein Rattenschwanz dran hängt, man muss es sich allerdings jedes Mal wieder bewusst machen. Hast du so eine Art Mantra um zu internalisieren wie schlecht Fast Fashion ist?

CB: Dieser Satz ist schon echt gut. Ich versuche Kleidung als Wegbegleiter zu sehen. Als Gegenstand mit eigenem Leben. Wenn man sich die Zeit nimmt, die Dinge wahrzunehmen, dann findet man zu jeder Sache eine Geschichte.

Wenn mich jemand auf diese Jacke von Silfir anspricht, kommt aus mir ein Wort-Wasserfall: „Ja, das hat eine Bekannte von mir gemacht, die ein zirkuläres Produkt entwickelt hat und es hat sechs Taschen…“ Bei einem Fast Fashion Produkt würde ich nur „Danke“ sagen – Ende der Geschichte.

NT: Du hast mich eben nach meiner Hose gefragt und ich habe mich kurz ein bisschen geschämt, weil sie tatsächlich von einer Fast Fashion Marke ist…

Wenn man aber über ein kleines, nachhaltiges, nischiges Label oder über einen Second-Hand-Fund redet, gehört oft eine Anekdote dazu. Man verbindet etwas damit. Jedes meiner Schmuckstücke hat eine Geschichte – ich weiß immer auf welchem Flohmarkt und in welcher Stadt ich es gekauft habe.

"Wir sollten anerkennen, was Menschen gut machen und nicht alles ‚haten', was man falsch macht."

CB: Ich finde es aber auch wichtig, zu sagen, dass es für mich natürlich leichter als für andere ist nachhaltige Brands zu finden. Ich setze mich den ganzen Tag damit auseinander und mein ganzer Instagram-Feed ist voll von nachhaltigen Marken. Ich kenne mich eben in diesem Bereich gut aus – es gibt andere Bereiche, in denen kenn ich mich gar nicht aus, und da mach ich sicherlich nicht alles richtig. Deswegen plädiere ich immer dafür jemanden nicht zu verurteilen: Wir versuchen alle etwas besser zu machen.

Wir sollten anerkennen, was Menschen gut machen und nicht alles ‚haten', was man falsch macht. Manchmal hilft es schon, wenn man so einen Pointer sagt. „Hey, warum isst du eigentlich jeden Tag Fleisch, hast du mal versucht weniger zu essen?“ Das kann helfen.

NT: Unser Shop ist auch auf nachhaltige Marken fokussiert. In einer Recherchier-Runde für Freiraum, sind wir über die Aussage des ‘Attitude-Behaviour-Gap Reports’, einer internen Zalando Studio, gestolpert: Das Wort Nachhaltigkeit löse in den meisten Konsument*innen eher Schuldgefühle aus. Genau das sollte nicht passieren. Statt zu urteilen und mit dem Finger zu zeigen, sollten wir lieber coole Alternativen zeigen. In diesem Fall würde man die Person nicht direkt auf ihren Fleischkonsum ansprechen, sondern sagen: „Guck mal, ich habe richtig gute vegane Dumplings im Asia-Markt um die Ecke gefunden, hast du Lust, dass wir die mal zusammen essen?“ Vielleicht ist das eine schönere Art und Weise Menschen durch dieses Thema zu führen.

CB: Zu meinem Dislike haben wir im vergangenen Jahr mehr über die negativen Seiten der Industrie berichtet: Wenn Brands Greenwashing betrieben haben zum Beispiel. Das ist super gut angekommen. Die Leute lieben das. Aber meine neueste Erkenntnis ist, dass es mir persönlich nicht guttut, mich so viel mit den negativen Geschichten auseinanderzusetzen. Deswegen bin ich gerade dabei wieder mehr Brands und Projekte zu zeigen, die ich cool finde. Wenn’s mir nicht guttut, dann tut es auch anderen Personen nicht gut. Auch wenn es wichtig ist auf Probleme hinzuweisen: Man muss erstmal das Problem kennen um zu erkennen, dass man eine Lösung braucht.

NT: Niemand kauft ein Produkt nur, weil es nachhaltig ist, es muss auch gut aussehen, oder zur Persönlichkeit passen. Trotzdem finde ich euren Instagram-Account auch so cool, weil ihr Fact-Checks macht.

CB: Du kennst doch sicher diesen ‘Big Fact’, dass man 7000 Liter Wasser für die Produktion einer Jeans aufwenden muss. Anfang des Jahres gab’s im Apparell Insider einen Artikel, für den die Redakteurin ganz ausführlich recherchiert hat. Sie hat recherchiert, woher dieser Fakt eigentlich kommt. Und zwar von einem werblichen Artikel einer Firma, die eine Technik entwickelt hat, mit der man synthetische Textilien färben kann, ohne viel Wasser zu verbrauchen. Diese Firma wollte also ein schlechtes Licht auf Baumwolle werfen. Das wiederum hat dann eine NGO aufgegriffen, dann eine weitere Plattform, und noch eine andere… Diesehaben sich dann gegenseitig verlinkt und zitiert.

Genauso ist auch der „Fakt" entstanden, dass die Modeindustrie die zweitschlimmste Industrie für die Umwelt sei. 2017 wurde dieser Fakt noch einmal überprüft. Da wurde sich gefragt: Wie wurde das ausgerechnet und wo steht das eigentlich? Auch hier landet man in einem Labyrinth von fragwürdigen Quellen. Wir wissen nicht an welcher Stelle die Modebranche steht. Wir wissen, dass es schlecht ist, aber an welcher Stelle und wie sich diese Zahl zusammensetzen soll ist ein Fragezeichen. Und deswegen ist es einerseits wichtig die Fakten zu teilen, aber andererseits müssen wir uns fragen: „What is a fact?“

NT: Ist es denn ein Fakt, dass nachhaltige Mode automatisch sehr viel teurer ist, als andere Mode?

CB: Nicht unbedingt: Der Preisunterschied um ein T-Shirt fair zu produzieren, liegt unter einem Euro. Lieferketten frei von Menschenrechtsverletzungen kosten Unternehmen maximal 0.6% ihres Umsatzes.

"Das Wort Nachhaltigkeit bedeutet jetzt wesentlich weniger als es noch vor fünf Jahren hat. Früher wurde es von tatsächlich nachhaltigen Marken benutzt, jetzt von jede*m."

NT: Nachhaltige Mode wird zum Glück immer günstiger und zugänglicher. Was hat sich geändert, seitdem zu 2016 deinen Job gekündigt hast?

CB: Ein guter Indikator für Veränderungen sind Google Searches. Ich hab eben nochmal nachgeschaut wie die Zahlen für das Suchthema ‚Sustainable Fashion‘ sind: In den letzten Jahren haben sich die Zahlen verdrei-, vervier-, verfünffacht – sie gehen immer rauf und runter, je nachdem, wann man im Jahr schaut. Aber auch die Inhalte ändern sich. Die nachhaltige Bubble geht immer mehr in die Tiefe. Es wird politischer.

Gleichzeitig gibt es ein anderes Phänomen: Das Wort Nachhaltigkeit bedeutet jetzt wesentlich weniger als es noch vor fünf Jahren hat. Früher wurde es von tatsächlich nachhaltigen Marken benutzt, jetzt von jede*m. Primark hat zum Beispiel eine Werbekampagne für nachhaltige Jeans gemacht. Man muss heute genauer gucken.

Mir persönlich hat meine Kündigung – und die Gründe dafür – gezeigt, was es für einen Unterschied machen kann hinter den eigenen Werten zu stehen. Sie war ein Wakeup-Call. Mittlerweile gibt es in der Firma, in der ich gearbeitet habe eine neue Jeans Linie, die in Portugal mit Biobaumwolle produziert wird und es wird allgemein versucht weniger, und dafür hochwertiger zu verkaufen. Ich glaube schon, dass es im Interesse der meisten Menschen ist, auf eine nachhaltigere Weise zu arbeiten, aber manchmal muss man einfach dran erinnert werden.

NT: Außerdem ist der Begriff „nachhaltig“ sehr weit gefasst. Ein Produkt, das fair produziert wurde und aus Deutschland kommt, kann aus Polyester gemacht worden sein. Ist es nachhaltig, weil es fair produziert wurde? Nachhaltigkeit hat viele verschiedene Definitionen und eine davon ist nur eine Worthülse. Wie können wir dagegen halten? Vielleicht mit dem „Activism for Lazy people“, wie du es selbst genannt hast. Erklär uns doch mal kurz, was das ist?

CB: Jede Person auf Social Media kann aktiv werden. Als Covid anfing, hat Remake Listen von Brands gemacht, die ihre Fabriken und Arbeiter*innen nicht bezahlt haben. Anhand dieser Listen konnte man sich an die Marken wenden, um nachzufragen, warum sie nicht zahlen. Wir haben also Instagram Gruppen gebildet und uns zusammengetan.

Besonders bei H&M waren wir sehr aktiv. Als der Transparency-Index von Fashion Revolution rauskam hat H&M einen Post gemacht: „H&M is the world’s most transparent brand.“ H&M war im Transparency Index 2020 als top transparente Brand gelistet. In diesem Index geht es aber um Brands, die mehrere Millionen Euro Umsatz machen. Im Gegensatz zu kleineren Marken ist H&M überhaupt nicht transparent. Und transparent wiederum bedeutet noch lange nicht, dass man nachhaltig ist oder fair bezahlt. Außerdem hatte H&M nur 70 von 100 Prozent im Ranking – im Schulsystem ist das eine Drei Minus, glaube ich. Nicht, dass ich besonders gut in der Schule war, aber das ist nichts zum Vorzeigen. Wir waren so aktiv bis H&M den Post dann sogar runtergenommen hat.

NT: So dringt ihr direkt bis zur Brand vor?

CB: Wenn man unter einem öffentlichen Post kommentiert, erreicht man nicht nur die Brand, sondern auch die Personen, die dort einkaufen. So kommt man außerhalb seiner eigenen Bubble an und schafft Bewusstsein. Man kann in diese Kommentare zum Beispiel einen Link zu einem Account einfügen, auf dem man mehr Informationen findet. Das ist der Aktivismus, den wir betreiben – „for lazy people“ ist dann, wenn man den Text einfach kopiert. Legt ihn in euren Notizen ab und wenn ihr zehn Minuten Zeit habt, packt ihr den Text einfach unter ein paar Brand-Posts und dann habt ihr einen "good deed for the day“ getan.

NT: Die Sätze, die man sich kopiert, bekommt man bei Fashion Revolution?

CB: Wir haben bei Sustainable Fashion Matterz einen Beitrag dazu gemacht, dort sind auch ein paar Beispiel-Sätze aufgeschrieben, die man sich abschauen kann. Am besten ist es natürlich, wenn die Texte individuell sind. Man würde also drei bis vier verschiedene Sätze haben, die dann immer abgeändert werden können.

Man kann bestimmte Fragen stellen: „Who Made My Clothes?“ Das ist natürlich ein Klassiker. Hilfreich ist es auch zu zeigen, dass man die Designs sehr schön findet, à la: „Ich interessiere mich für das Oberteil, könnt ihr mir zeigen, wie das produziert wird?“

NT: Bei Fashion Revolution gibt es ganz viele Aktivismus-Materialien, die man sich herunterladen kann und E-Mails, die vorformuliert sind…

CB: Man wählt einfach nur die Brand aus, gibt seine E-Mail-Adresse ein, und kann 60 E-Mails innerhalb von fünf Minuten abschicken.

Was kann man noch tun?

NT: Sich noch mehr zu informieren ist immer sinnvoll: Bestimmten Accounts folgen, bestimmte Podcasts hören, damit man seine Meinung mit Informationen untermauern kann. Mir passiert es öfter, dass ich mit Menschen rede und weiß, dass ich Recht habe, aber diesen einen Fakt nicht parat habe. Je mehr man sich mit einem Thema auseinandersetzt und je besser man sich auf einem Gebiet auskennt, desto besser kann man diskutieren und desto besser kann man seinen Standpunkt weiter in die Welt tragen.

CB: Das Gute ist, dass wir alle immer ein Handy dabei haben und einfach nachgucken können. Man muss wissen, wo man die Information findet, aber ich finde es auch okay während einer Diskussion nachzuschauen.

Ich find es einfach wichtig, sich selbst über die Lage bewusst zu sein und andere Personen für die Anstrengungen, die sie unternehmen, anzuerkennen.

NT: Auch wenn’s nur eine Sache ist.

CB: Denn niemand ist perfekt und das ist okay. Das macht uns zu Menschen.